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Einen der überzeugendsten Auftritte bei den bisherigen Anhörungen der KandidatInnen für die künftige Kommission durch das Europäische Parlament lieferte Michel Barnier, der französische Kandidat für das Amt des Binnenmarktkommissars, diese Woche in Brüssel. Sein Versuch, einen deutlichen Schlussstrich unter den neoliberalen Kurs seiner Vorgänger zu ziehen, ist gelungen.

„Die Effizienz des Marktes muss dem Bürger dienen“

Völlig ungewohnte Töne in Brüssel von einem Mann, der jahrzehntelange Erfahrung in höchsten politischen Ämtern in Frankreich und in der Europäischen Union aufweisen kann, und der sich anschickt, den bisherigen neoliberalen politischen Kurs der Europäischen Kommission maßgeblich zu korrigieren. Michel Barnier kandidiert für das Amt des Europäischen Kommissars für den Binnenmarkt, eines der Schlüsselressorts in der Kommission Barroso 2. In seinen Dienststellen wird entschieden werden, wie die Zukunft des Binnenmarktes und der Finanzmarktregulierung aussehen wird. Ob die Kommission wie in der Vergangenheit auf entfesselte und unkontrollierte  Marktkräfte setzt, oder ob sich nach der schwersten Finanz- und Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit endlich europäische Politik im Interesse der BürgerInnen Europas durchsetzt. Barnier ließ keinen Zweifel an seinen politischen Überzeugungen, und sein Auftritt vor dem Binnenmarkt- und dem Wirtschaftsausschuss ließ keinen Zweifel daran, dass er eine breite Unterstützung des Parlaments für seine Kandidatur erhalten wird.

„Mein Name soll nicht im Zusammenhang mit sozialem Rückschritt gebracht werden“

Mit beeindruckender politischer Erfahrung und diplomatischem Geschick meisterte Barnier das über dreistündige Frage- und Antwortspiel im Europäischen Parlament bravourös und ohne Ausrutscher. Seine Formulierungen ließen erkennen, dass er sich deutlich von seinen Vorgängern Bolkestein und McCreevy distanzieren will, die mit der sogenannten Bolkestein-Richtlinie und dem einseitigen Einsatz für die Interessen der Finanzindustrie dem Ansehen der Kommission bei den BürgerInnen und den ArbeitnehmerInnen nachhaltigen Schaden zugefügt haben. Höchste Zeit für einen Kurswechsel, und Barnier demonstrierte seinen Willen dazu in seinen Formulierungen.

„Die Menschen wieder in den Mittelpunkt stellen, Märkte im Dienste der Menschen“

Einige Beispiele dazu: „Der Binnenmarkt muss fairer werden“, so Barnier. Seine Dienste sollen in Zukunft bei neuen Gesetzesvorschlägen erstmals auch soziale und ökologische Folgeabschätzungen präsentieren, eine Forderung, die bereits seit Langem von Arbeitnehmerseite erhoben wurde. „Der Binnenmarkt ist nur machbar mit Solidarität“, so Barnier weiter. Territoriale und soziale Brüche müssten vermieden werden, von ihm komme ein klares Ja zu sozialen und Umwelt-Fortschrittsklauseln. Auch bei den öffentlichen Dienstleistungen, die von Barniers Vorgängern lange ausschliesslich unter dem Wettbewerbsgesichtspunkt behandelt wurden, ließ der Franzose eine nuanciertere Sichtweise erkennen. Es sei eine Klarstellung nötig, was öffentliche Dienstleistungen sind. Ob dies, wie von vielen gefordert, im Rahmen einer sogenannten Rahmenrichtlinie oder von sektoralen Richtlinien für einzelne Bereiche erfolgen soll, wollte Barnier noch nicht beantworten: „Ich weiss es noch nicht genau“. In Bezug auf Dienstleistungskonzessionen meinte Barnier, dass diese bisher von keinem Text erfasst seien und ein Nachdenken nötig sei, ob hier eine neue Richtlinie gebraucht werde. In jedem Fall seien die Traditionen in den Mitgliedstaaten zu berücksichtigen. Überhaupt plane er, ein Mal pro Woche in ein europäisches Land und vor allem in die Regionen zu fahren und den Menschen zuzuhören, so der Franzose. Auf ein beliebtes Spiel angesprochen, nach dem die Mitgliedstaaten für ihre eigenen Entscheidungen im Rat zu mehr Deregulierung und Privatisierung gerne „Brüssel“ die Schuld geben, zeigte Barnier europäisches Selbstbewusstsein: „Brüssel wird in Zukunft nicht die Verantwortung für das Handeln der Mitgliedstaaten übernehmen.“

„Eine sicherere Welt wird eine gerechtere Welt sein.“

Seine inhaltliche Kompetenz stellte Barnier bei den zahlreichen Fragen zum weiteren Vorgehen der Kommission bei der Regulierung der Finanzmärkte unter Beweis. Die Finanzkrise sei die schwerste Krise seit 1929, und ohne Eingreifen der öffentlichen Hand gäbe es heute keine Banken mehr, so der Kommissarskandidat. Es sei an der Zeit, „das Buch der Unverantwortlichkeit“ zuzuschlagen. Reformen seien auf jeden Fall nötig, kein Markt, kein Produkt und kein Akteur dürfe sich den Regeln entziehen können. Die Reform der Bankenaufsicht müsse verbessert, Regeln zur Solidität der Banken, der Kapitaladäquanz, der Derivate und gegen Marktmachtmissbrauch eingeführt werden. Weitere Arbeitsschwerpunkte seien Solvency II, die europäische Einlagensicherung, Hypothekenkredite, und die Einführung einer europaweiten Bankkarte.

Europa als Motor für die Welt: „Wenn die Industrie abzieht, weil es Regeln gibt, muss sie das vor sich selbst verantworten“

Einem beliebten Argument der Finanzlobbyisten, um neue Regeln für die Finanzindustrie zu verhindern, trat Barnier entgegen: Europa könne nicht im Alleingang voranschreiten, weil sonst das Finanzkapital in andere Regionen der Welt abziehen würde. Hier sprach sich Barnier eindeutig für eine Vorreiterrolle Europas und für einen starken Dialog mit den USA und mit China aus. Sein Credo: „Die europäische Finanzindustrie braucht Regeln, damit sie noch wettbewerbsfähiger wird.“ Europa brauche einen Rechtsrahmen und Instrumente, um eingreifen zu können, wenn die nächste Krise kommt. „Wir können nicht immer den Krisen hinterherlaufen“, so Barnier.

„95 Prozent der Finanztransaktionen entgehen jeglicher Kontrolle.“

Die Lobbyisten der City of London fehlten bei der Anhörung Barniers natürlich nicht. So meinte ein britischer Abgeordneter, dass man „die Gans nicht schlachten solle, die die goldenen Eier legt“. „Äußern Sie sich für die City of London oder für die Wähler?“, so die humorige Gegenfrage des französischen Politikers, die von den  Parlamentariern mit  breitem Applaus bedacht wurde. Die britischen Steuerzahler hätten für die Banken ganz tief in die Tasche greifen müssen, so Barnier, der auch den „Vater“ der Liberalen, Adam Smith, zitierte: „Der Markt kann ohne Regeln und Moral nicht leben.“ Die Krise habe bereits hunderttausende Arbeitsplätze zerstört und sei noch gar nicht vorbei, lehnte Barnier ein „business as usual“ ab. Auf die Einführung einer Finanztransaktionssteuer angesprochen zeigte er sich nicht ablehnend, aber sagte: „Ich will mich derzeit nicht zu sehr vorwagen“.