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ZurückDie Mitglieder des Europäischen Parlaments haben sich im November mit knapper Mehrheit für eine Änderung der EU-Verträge ausgesprochen. Dabei geht es um wichtige Gestaltungsprinzipien der EU. Das Parlament fordert unter anderem mehr Mitsprache- und Entscheidungsrechte und ein soziales Fortschrittsprotokoll. Nun liegt der Ball beim Europäischen Rat, der über die Einberufung eines Konvents entscheiden soll.
Das Europäische Parlament verabschiedete im November eine Entschließung zur Änderung der Verträge der Europäischen Union, welcher im Ausschuss für konstitutionelle Fragen (AFCO) vorbereitet worden war. Dabei hatten unter anderem Gabriele Bischoff (S&D) und Guy Verhofstadt (Renew) die Berichterstattung inne. Die Diskussion im Plenum verlief sehr kontroversiell, was auch in dem Sinn nachvollziehbar ist, als dass es sich um einen der weitreichendsten Vorschläge der letzten Jahre handelt. Es werden im wahrsten Sinne entscheidende Gestaltungsmerkmale der EU aufgegriffen. Die unterschiedlichen Perspektiven spiegeln sich im Abstimmungsverhalten wider. Die Entschließung wurde mit einer knappen Mehrheit von 291 Ja- und 274 Nein-Stimmen und 44 Enthaltungen angenommen.
Jetzt sind die Staats- und Regierungschef:innen am Zug. Der Europäische Rat muss darüber entscheiden, ob ein Konvent nach Artikel 48 einberufen wird. Für eine tatsächliche Vertragsänderung braucht es schließlich im Rat eine Einstimmigkeit. Die kommende belgische Ratspräsidentschaft hat bereits angekündigt, einen Fahrplan für eine Reform erarbeiten zu wollen. Bis Juni 2024 soll ein Rahmenprogramm für die nächste EU-Kommission fertiggestellt werden. Damit wird es für die Mitgliedstaaten schwieriger, sich einer Reformdebatte zu verweigern.
Demokratie leben und sozialen Fortschritte vorantreiben
Ziel des Berichts des EU-Parlaments ist es, eine demokratischere Union zu fördern. Als einzig direkt gewählte EU-Institution erhebt das Europäische Parlament den Anspruch, dass seine Mitspracherechte deutlich gestärkt werden. Es fordert das volle Initiativrecht bei Gesetzgebungsverfahren ein. Außerdem möchte es über den Mehrjährigen Finanzrahmen (MFR) entscheiden können. Weitere Kompetenzen in zentralen Bereichen wie Klimaschutz, Energie und Gesundheitswesen sollen dazukommen.
Die Europäische Kommission soll künftig als „Europäische Exekutive“ bezeichnet werden. Dies spielt auf die Rolle vor allem eines die Gesetze ausführenden Organs an. Des Weiteren soll die Anzahl der Kommissar:innen auf 15 begrenzt werden. Statt des Verhältnisses von einem/einer Kommissar:in pro Mitgliedstaat soll ein Rotationsprinzip zwischen den EU-Staaten eingeführt werden. Ebenso soll der/die Kommissionspräsident:in künftig vom EU-Parlament ernannt werden.
Der Rat soll transparenter werden. Die Mitgliedstaaten sollen künftig ihre Positionen zu Gesetzgebungsfragen veröffentlichen und nicht mehr hinter verschlossenen Türen verhandeln. Ein wichtiger Punkt ist die Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips, welches noch in sieben Bereichen vorgesehen ist. Dazu gehören die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, die Harmonisierung der nationalen Rechtsvorschriften im Bereich der indirekten Besteuerung, die EU-Finanzen (MFR) und die Harmonisierung der nationalen Rechtsvorschriften im Bereich der sozialen Sicherheit und des sozialen Schutzes. Stattdessen soll das Prinzip der qualifizierten Mehrheit, das heute bereits in den meisten Bereichen angewandt wird, voll ausgeweitet werden. Dies würde verhindern, dass Staaten mit ihrem Vetorecht wichtige Vorhaben blockieren.
Zwei Punkte, die die AK besonders begrüßt, beziehen sich einerseits auf die Stärkung der Rolle der Sozialpartner bei der Vorbereitung von Initiativen und andererseits auf die Aufnahme des Protokolls über den sozialen Fortschritt in die Verträge. Bei letzterem geht es im Kern darum, dass soziale Grundrechte im Streitfall über den Marktfreiheiten stehen. Damit würden auch Gewerkschaftsrechte gesichert und die soziale Dimension des Binnenmarkts ausgebaut werden.
Neubelebung der Debatte zu Vertragsänderungen
Die letzte Reform der EU-Verträge fand 2007 statt. Nachdem zuvor der Entwurf für eine Europäische Verfassung abgelehnt worden war, verlief auch der Einigungsprozess zum Vertrag von Lissabon kontroversiell. Nun wird das als schwierig erachtete Thema Vertragsreform wieder aufgegriffen. Erstens hat die Konferenz zur Zukunft Europas, deren Ergebnisse im Mai 2022 vorgestellt wurden, dieses Thema wieder in den Vordergrund gerückt. Der Abschlussbericht enthielt Empfehlungen in Bezug auf eine demokratischere Gestaltung der EU und ein soziales Fortschrittsprotokoll. Zweitens hat die Debatte zur Erweiterung der EU durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine eine neue Dynamik erhalten. Dies kann zum Katalysator für tiefgreifende Veränderungen werden. Eine EU mit bis zu 35 Mitgliedstaaten wird anders aussehen müssen.
Auch der globale Kontext erfordert laut Berichterstatterin Gabriele Bischoff vertragliche Anpassungen: „Die Welt entwickelt sich weiter, und unsere institutionelle Architektur und die Entscheidungsprozesse in der EU sind nicht mehr zeitgemäß, wenn wir als globaler Akteur relevant bleiben wollen. Wir müssen die EU-Verträge ändern, um die Handlungsfähigkeit der EU zu erhöhen." Aus Sicht der AK ist die Reformdebatte zu begrüßen. Will man ein demokratischeres, sozial gerechteres und umweltfreundliches Europa schaffen, wird man um Änderungen der EU-Verträge kaum herumkommen.
Weiterführende Informationen:
EU-Parlament: Die Zukunft der EU: Vorschläge des Parlaments zur Änderung der Verträge
EU-Parlament: Vorschläge des Europäischen Parlaments zur Änderung der Verträge (Entschließung)
AK EUROPA: Europäischer Pakt für sozialen Fortschritt – Alternative zur liberalistischen Verfassung des EU-Binnenmarktes
AK EUROPA: Bürger:innenforum zu sozialem Europa mit AK-Präsidentin Renate Anderl
A&W Blog: Der soziale und ökologische Umbau braucht eine neue Wirtschaftspolitik und eine umfassende Reform der EU
European Policy Centre: Raising the stakes on constitutional reform: The European Parliament triggers treaty change (Nur in Englisch)