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ZurückDer Benchmarking Working Europe Bericht 2023 weist auf soziale Schwachstellen und Herausforderungen in Europa hin. Die EU versucht aktuell vier Übergänge gleichzeitig zu bewältigen, mit widersprüchlichen Zielen und nur begrenzter Vision. Für eine Durchbrechung des aktuellen Krisenzyklus braucht es jedoch einen transformativen und ehrgeizigen sozialen Übergang. Hierzu diskutierten anlässlich der Veröffentlichung des Berichts Forscher:innen des Europäischen Gewerkschaftsinstituts (EGI) und Vertreter:innen der EU-Kommission und des Europäischen Gewerkschaftsbundes (EGB).
Aktuell befindet sich die EU in einer multiplen Krise, als deren größtes Problem aktuell die Lebenshaltungskostenkrise gesehen wird. Sie geht mit vielen weiteren Herausforderungen wie hoher Inflation, niedrigen Löhnen, Energiekrise und der Überlastung von Wertschöpfungsketten einher. Und über allem schwebt das Damoklesschwert der Klimakrise. Zugleich verzeichnen einige Unternehmen und Sektoren noch nie dagewesene Gewinne. Das steht in einem starken Kontrast zum eklatanten Mangel an Ressourcen in anderen Bereichen. Tatsächlich müsse die EU so rasch wie möglich auf neue Investitionen in die grüne Wende und auf eine strategische Industriepolitik setzen, nicht zuletzt auch, um ihre Wettbewerbsfähigkeit gegenüber den USA und China zu bewahren. Wichtig dabei ist, die Werte der EU nicht aus den Augen zu verlieren: „Demokratie und soziale Gerechtigkeit müssen Hand in Hand gehen”, so Oliver Röpke, Vorsitzender der Arbeitnehmer:innengruppe im Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA).
Die Herausforderung der „4 + 1“ Übergänge für die EU
Laut Nicola Countouris, Direktor der Forschungsabteilung des EGI, habe die EU ihr nach der Pandemie gegebenes „Building back better“-Versprechen gebrochen. Lösungen der EU für aktuelle Probleme sind ihm zufolge oft wenig ambitioniert und würden sogar teilweise zu einer Institutionalisierung der Krisen führen. Er sieht große Herausforderungen bei den aktuellen Übergängen: Beim grünen Übergang mangle es beispielsweise an Investitionen, die Energiepreise verharren auf einem Rekordhoch. Der technologische Übergang verlange nach einer Neudefinition des Arbeitsplatzkonzepts und der Regulierung von künstlicher Intelligenz. Im Rahmen des strategischen Übergangs seien die Diversifizierung der Lieferketten und das Reshoring von kritischen und strategischen Produktionsgütern essenziell. Zuletzt müsse für den wirtschaftlichen Übergang die hohe Inflation durch eine Veränderung des makroökonomischen Rahmenwerks angegangen werden. Besonders hervorzuheben sei die „fehlende“ fünfte Dimension: der soziale Übergang. In diesem Zusammenhang müsse man längst überfällige Umverteilungsfragen stellen und die Bedeutung des Sozialen Dialogs und von Kollektivvertragsverhandlungen anerkennen.
Hohe Inflation, Lebenshaltungskostenkrise und Anstieg von psychosozialen Risiken
Sotiria Theodoropoulou, Abteilungsleiterin für europäische Wirtschafts- und Sozialpolitik am EGI, erkennt in der hohen Inflation eine Konsequenz der vier genannten Übergänge. Der Anstieg des harmonisierten Verbraucherpreisindex habe sich nach einem Höchstwert von 10,6% im Oktober 2022 im Jänner 2023 auf 8,5% verlangsamt. Das Problem sei, so Theodoropoulou, dass die Nominallöhne damit nicht mithalten konnten. Der aktuelle Fachkräftemangel spiegle zugleich die unattraktiven Arbeitsbedingungen in manchen Sektoren wider und mache die Notwendigkeit von Um- und Nachschulungen der Arbeitnehmer:innen deutlich. Die Beschleunigung von technologischen Innovationen bringt laut Agnieszka Piasna, Forscherin des EGI, ganz neue Dimensionen von Polarisierung und Ungleichheit ans Licht. Der technologische Übergang führe zu einem drastischen Anstieg an beruflichen Risiken: Besonders psychosoziale Risiken wie Belästigung, Mobbing, fehlende Autonomie und Arbeitsüberlastung seien immer häufiger zu verzeichnen. Umso wichtiger sei die Rolle von Arbeitsplatzdemokratie und Sozialem Dialog.
Sozialer Übergang als Hoffnungsträger?
Laut Frank Siebern-Thomas von der EU-Kommission sei es besonders wichtig, sich auf die soziale Transformation und auf soziale Resilienz und Nachhaltigkeit zu konzentrieren. Für Liina Carr, leitende Sekretärin des EGB, muss zur Finanzierung unserer Sozialsysteme endlich die Besteuerung geändert werden: „Solange die reichsten Menschen der Welt sich verstecken und sogar Betrug begehen, um keine Steuern zu zahlen, die restlichen 99 Prozent aber Steuern auf jeden Cent zahlen müssen, werden wir nicht angemessen in den sozialen Aufbau investieren können.“ Auch wenn die EU-Kommission sich laut Siebern-Thomas der Bedeutung der Einbeziehung der Sozialpartner bei diesem Prozess bewusst ist, fällt Carr zufolge deren Einbindung insgesamt nach wie vor viel zu gering aus.
Weiterführende Informationen:
Europäisches Gewerkschaftsinstitut: Benchmarking Working Europe 2023 (Nur Englisch)
AK EUROPA: Benchmarking Working Europe 2021 – Ungleichheit in Europa
AK EUROPA: EU-Kommission rückt Stärkung des sozialen Dialogs in den Vordergrund
AK EUROPA: Winterprognose 2023. Weniger schlimm als erwartet, aber kein Grund zum Jubeln
AK EUROPA: Mindestbesteuerung großer Konzerne wird Realität