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ZurückDie eigenen vier Wände sind für Frauen bekannterweise einer der gefährlichsten Orte der Welt. Frauenrechtsorganisationen warnen bereits seit Wochen vor den Folgen der Corona-Pandemie für die Betroffenen von häuslicher Gewalt. Angesichts der aktuellen Isolierungsmaßnahmen explodiert die Zahl der häuslichen Gewalttaten und machen den seit Jahrzehnten bestehenden dringenden Handlungsbedarf sichtbar.
Krisen wirken sich auf Menschen unterschiedlich stark aus. Ohne Gegenmaßnahmen verschärfen sich nicht nur bereits bestehende gesellschaftliche Ungleichheiten, es entstehen ebenso neue Herausforderungen für benachteiligte Gruppen. So verstärken vermeintlich geschlechtsneutrale Politiken Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern – das zeigte etwa Forschung von Christa Schlager und Elisabeth Klatzer. Die in den Jahren nach der Finanzkrise 2008/2009 etablierte Austeritätspolitik der EU traf Frauen nicht nur anders als Männer, sondern auch stärker. Im Zuge ihrer Forschung stieß etwa Sylvia Walby auf einen Zusammenhang zwischen sozialen Kürzungen und einer Zunahme von Gewalt nach 2008. Auch in der jetzigen Coronakrise und der damit einhergehenden Wirtschaftskrise sind Frauen anders als Männer betroffen.
Zunahme an Gewalt
Frauenorganisationen schlagen bereits seit Wochen Alarm: Aufgrund der im Zusammenhang mit der aktuellen Pandemie verhängten Quarantäne-Maßnahmen wird eine massive Zunahme an häuslicher Gewalt erwartet. In China kam es während des „lockdowns“ zu einer Verdoppelung, in Wuhan sogar zu einer Verdreifachung der registrierten Fälle von häuslicher Gewalt. Indien meldete bereits nach der ersten Woche der neu implementierten Maßnahmen, ebenfalls eine Verdoppelung der Fälle. Die aktuelle Zunahme von häuslicher Gewalt ist angesichts der erschwerten Möglichkeiten, sich Unterstützung außerhalb der eigenen vier Wände zu suchen, besonders bedrohlich. Betroffene Frauen und Kinder finden sich nicht nur in besonders erschwerten Bedingungen wieder, durch das „social distancing“ fällt auch die soziale Kontrolle von außen weg. Das Aufsuchen von Beratungsstellen bzw eine Flucht in – die vor der Krise oftmals bereits ausgelasteten – Frauenhäuser wird zusätzlich erschwert.
Erste Mitgliedsstaaten werden aktiv
Die Zahlen zu häuslicher Gewalt steigen in den ersten Mitgliedstaaten dramatisch an. Allein in den ersten acht Tagen seit Inkrafttreten der Ausgangsbeschränkungen verzeichnete Frankreich einen Anstieg der gemeldeten Fälle um 32 %, in Paris sind es gar 36 %. Frankreich arbeitet deshalb an einem Notfallwarnsystem, welches online, in Apotheken und Supermärkten funktionieren soll. Dabei sollen etwa in Supermärkten Beratungsstellen öffnen. In Frankreich und Spanien können Betroffene in Apotheken mit dem Codeword eine „Maske 19“ verlangen. In diesem Fall rufen die ApothekerInnen die Polizei. Betroffene sollen in Frankreich zudem in Hotels untergebracht werden. Dänemark berichtet ebenso über vermehrte Ansuchen nach Plätze in Frauenhäusern. In Deutschland wurden beispielsweise mehr Online-Anfragen registriert, ebenso ein Anstieg der Anrufe bei Hotlines um über 20%. Expertinnen zufolge ist das Aufrechterhalten der Hotlines, aber auch gerade vermehrte Online-Unterstützung zentral. Dass in manchen Ländern, wie etwa in Österreich, die Mittel für Online-Unterstützung aufgestockt wurden, erscheint daher sinnvoll, da der Kontakt über das Telefon bei einem gleichzeitigen Aufenthalt in derselben Wohnung erschwert ist. In Österreich wurde zudem die Möglichkeit, einstweilige Verfügungen zu stellen, vereinfacht, sowie Informationsmaterial in Supermärkten ausgelegt und die Mittel der 24-Stunden-Helpline erweitert. Bisher zeigt sich in Österreich ein leichter Anstieg an verhängten Betretungsverboten und damit an bekannten Gewaltfällen. Doch auch abseits der bereits getroffenen Maßnahmen ist zu hoffen, dass solche mitgliedstaatliche Maßnahmen noch weitere NachahmerInnen finden. Wünschenswert wären darüber hinaus, die Setzung von Maßnahmen zum Schutz der betroffenen Frauen und Kinder auf EU Ebene. Auch die ExpertInnengruppe für Maßnahmen gegen Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (GREVIO) ruft die Mitglieder der Istanbulkonvention auf, Unterstützungsleistungen aufrecht zu erhalten und an die geänderten Umstände anzupassen.
Noch keine EU-Maßnahmen
Nur wenige Wochen, nachdem Gleichstellungskommissarin Helena Dalli die neue Gleichstellungsstrategie präsentiert hat, gewinnt die Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen nochmals an Dringlichkeit. Auch in Zeiten der Bekämpfung der aktuellen Pandemie darf der Schutz von Personen in besonders vulnerablen Situationen keineswegs vernachlässigt werden. Die Gleichstellungsstrategie hat den Gewaltschutz als eines ihrer priorisierten Themen definiert. So wurde etwa die Ratifizierung und vollständige Umsetzung der Istanbul-Konvention zum Ziel gesetzt. Gerade jetzt bräuchte es angesichts der aktuellen Lage dringend kurz- und langfristige Maßnahmen. Bisher hat die Kommission noch keine konkreten Maßnahmen gesetzt, Gleichheitskommissarin Helena Dalli rief jedoch die Mitgliedstaaten dazu auf, die Krisenpolitik geschlechtssensibel zu gestalten. Eyelyn Regner, Vorsitzende des Frauenrechts-Kommittees, forderte am 7. April die EU und die Mitgliedstaaten auf, angesichts der steigenden Gewaltvorfälle aktiv zu werden sowie die stärkeren Folgen der Krise für Frauen abzuschwächen.
Terry Reintke, MEP der Grünen, diskutierte im Rahmen eines Webinar zur aktuellen Zunahme von häuslicher Gewalt und hofft auf ein Tätigwerden der Kommission. Sinnvoll sei etwa ein Aufstocken des Sozialfonds und die Erhaltung des Europäischen Hilfsfonds (EHAP) in seiner unbürokratischen Art. Sie forderte „die Kommission und die Mitgliedstaaten auf, die Maßnahmen zur sozialen Distanz durch Maßnahmen gegen häusliche Gewalt zu ergänzen. Dazu gehören insbesondere die Aufstockung der Mittel für Maßnahmen zur Prävention häuslicher Gewalt, der weitere Ausbau der Helplines und die Einrichtung eines Unterstützungsnetzes in den Mitgliedstaaten.“
Wir sind alle gefragt
Aufmerksam zu sein und nicht die Augen vor Gewalt zu verschließen ist immer – nicht nur in Corona-Zeiten – wichtig und kann potentiell lebensrettend sein. Allgemein wird NachbarInnen angeraten, eine potentielle Gewaltsituation in der Nachbarwohnung zu unterbrechen – sei es durch Klingeln oder das Rufen der Polizei. Abgesehen von einem akuten Gewaltfall ist das Aufhängen von Flyern mit Hotlines im Treppenhaus ebenso sinnvoll wie ein Ansprechen von potentiell Betroffenen, wenn diese einem etwa allein am Gang begegnen. Bei Unsicherheit, wie in der Situation am besten vorzugehen sei, können sich auch NachbarInnen über eine der Hilfehotlines beraten lassen. Die Mitgliedstaaten und die Kommission sind angehalten, ausreichend Maßnahmen einzuleiten, um den allgemein unterfinanzierten Bereich des Opferschutzes aufzustocken. Die Zahlen aus Ländern wie China und Frankreich sollten Warnung genug sein.
Weiterführende Informationen:
AK EUROPA: Neue Gleichstellungsstrategie veröffentlicht
GREVIO: Erster allgemeiner Bericht über die Aktivitäten von GREVIO
OECD Podcast: Violence against women – Sylvia Walby OBE
Jetzt: Was kann ich als Nachbar gegen häusliche Gewalt tun?